“Gropiusstadt, das sind Hochhäuser für 45.000 Menschen, dazwischen Rasen und Einkaufszentren. Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt lebten. Am meisten stank es im Treppenhaus.”
So beschrieb Christiane F. auf den ersten Seiten ihrer Geschichte "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" den Ort, in dem sie als Kind aufwuchs.
Als regierender Bürgermeister von Berlin legte Willy Brandt 1962 den Grundstein für das ambitionierte Großsiedlungsprojekt „Gropiusstadt“. Die ersten Pläne stammten bereits aus den Fünfziger Jahren, als die Stadtplaner die dicht bebauten Gründerzeitviertel Nordneuköllns “entkernen” und den Kriegsgeplagten mehr “Licht, Luft und Sonne!” schenken wollten.
Entworfen hat sie der berühmte Architekt und Bauhaus-Begründer Walter Gropius mit dem Ziel, die „mannigfaltigen Elemente des herkömmlichen Stadtlebens“ miteinander zu verbinden. Wie nackt sollten Walter Gropius' Bauwerke dastehen und aus ihrem Inneren heraus strahlen: modern, geometrisch, hell. Mit diesem ästhetischen Architekturverständnis gründete Gropius 1919 das Bauhaus, welches heute als wirkungsvollster Exportartikel von Kultur aus Deutschland im 20. Jahrhundert gilt.
Durch den Bau der Mauer wurde der Raum für neue Häuser in Westberlin knapp. Die Folge: Mehr und weitaus höhere Gebäude waren in Gropiusstadt nötig, so dass die Siedlung bei ihrer Fertigstellung über 19.000 Wohnungen fasste. 90 Prozent der neu geschaffenen Wohnräume wurden als Sozialbauwohnungen vermietet.
Ich bin 1980er Jahren auf der anderen Seite der Mauer in Ostberlin aufgewachsen. Keine 500 Meter Luftlinie und dennoch unerreichbar von der Gropiusstadt entfernt. Bei unseren ersten Ausflügen in den „goldenen Westen“ wurden wir Kinder vor dem Ort, der synonym für Drogen und Gewalt stand, gewarnt. Gegen diesen schlechten Ruf kämpft die Gropiusstadt noch immer.
Meine Arbeit ist der Versuch einer Annäherung an den Mythos Gropiusstadt, ein Porträt entlang der fotografischen Grenze zwischen dokumentarischem Realismus und subjektiver Poesie.
Wie sieht sie aus die Wirklichkeit jenseits des Versprechens von mehr „Licht, Luft und Sonne“? Worin wird es sichtbar, das ambivalente Lebensgefühl dieser einst stolz in Beton gegossenen und nunmehr gescheitert geglaubten architektonischen Utopie am Rande der Stadt.
Seit dem 50. Geburtstag der Gropiusstadt im Jahr 2012 porträtiere ich ihre Bewohner. Um ihnen im kurzen Moment des zufälligen Augenblicks etwas näher zu kommen. Ich hoffe, dass sich in den Bildern, die ich mir von den Menschen und dem Ort mache, etwas offenbart. Ein Schimmer all der Widersprüchlichkeiten zwischen Licht, Luft und Beton. In der Trabantenstadt am Rande Berlins, wo die Hoffnungen vom modernen Leben an die Rieselfelder Brandenburgs grenzen.
Portraits Hellerau Photography Award 2022, Technische Sammlungen Dresden